"Wir sind - und bleiben - ein Fixpunkt im Land“

Raiffeisenbanken, Lagerhäuser und zahlreiche Genossenschaften darüber hinaus zählen aus gutem Grund zur kritischen Infrastruktur des Landes und haben diese bedeutende Rolle vor allem während der herausfordernden Zeit der Corona-Krise mehr als deutlich unter Beweis gestellt. Raiffeisen-Generalanwalt Walter Rothensteiner über Hoffnungen, Überraschungen und Impulse.

Nach Hermann Hesse wohnt jedem Anfang ein Zauber inne. Worin könnte dieser Zauber in Bezug auf das neue Jahr 2021 liegen?

Walter Rothensteiner: Der Zauber des neuen Jahres liegt allein schon in der Hoffnung, dass die Corona-Krise bald vorbei sein wird. Die meisten Menschen stimmt die Aussicht darauf, nicht mehr groß nachdenken zu müssen, ob man das Haus verlässt, mit Freunden in ein Restaurant geht oder für ein paar Tage wegfährt, hoffnungsfroh. Das Leben unter den aktuellen Corona-Maßnahmen bremst uns in vielen Bereichen zwar noch extrem ein. Der Zauber liegt aber in der Hoffnung, dass wir bald weniger Auflagen haben werden und uns wieder freier bewegen können. Der Optimismus ist jedenfalls zurück -zusätzlich verstärkt durch die jetzt beginnenden Impfungen. 

Blicken wir zunächst nochmal zurück: Welches Wort fällt Ihnen ein, wenn Sie an 2020 denken?

Rothensteiner: Videositzungen. Ich hatte Wochen, in denen ich 25 bis 30 Stunden vor dem Bildschirm gesessen bin -irgendwann wird das mühsam. Und wenn Sie mich nach einem Eigenschaftswort für 2020 fragen, so wäre das 'lähmend' - denn so haben es viele vor allem im beruflichen Umfeld empfunden, auch im Raiffeisensektor. Ich war beispielsweise über 40 Jahre Sitzungen gewohnt, bei denen ich Menschen in die Augen schauen konnte. Und wo man aus dem Sitzungsverlauf erkennen konnte, wie jemand auf eine Aussage reagiert, wer positiv zum Thema steht oder wer gerade leicht das Gesicht verzieht und so weiter. Jetzt sehe ich die Teilnehmer bestenfalls in Briefmarkengröße, wenn sie nicht sogar die Kamera ganz abgeschaltet haben.

Das ist lähmend. Und man kann sich nie ganz sicher sein, wohin die Diskussion läuft.

Sie vermissen also besonders das persönliche Element?

Rothensteiner: Ja. In meinem Visavis zu sehen, was er bzw. sie denkt. Diese persönliche Interaktion. Gerade in einem traditionell sehr auf Begegnung ausgerichteten System wie Raiffeisen, wo es genau auf diese Interaktion ankommt, war das mitunter schwierig. Für einen kürzeren Zeitraum wäre das ja kein Problem, aber in Summe waren und sind wir jetzt schon zweieinhalb Monate im Lockdown. Wer weiß, ob da einigen von uns nicht nach Corona der Antrieb fehlt, die Dinge wieder so zu machen wie davor. Auch ich selbst frage mich ja hie und da: Will ich das dann noch? Etwa so gut wie jeden Abend die Woche auch abends Termine wahrnehmen. Oder verbringe ich die Zeit lieber zu Hause mit einem guten Buch. Ich denke, manche Umstände werden sich wandeln und wir merken es gar nicht groß.

Was hat Sie in dieser Corona-Krise am meisten überrascht? 

Rothensteiner: Dass es möglich war, viele General-und Hauptversammlungen ausschließlich online abzuhalten. Wenn ich da etwa an die üblicherweise recht große HV der Uniqa denke, wie professionell und vor allem effizient die digital abgelaufen ist -Chapeau! In der Regel sind solche Veranstaltungen virtuell sogar kürzer, weil sich auch die Wortmeldungen auf das Wesentliche konzentrieren.

Wie beurteilen Sie die Unterstützungsmaßnahmen der Regierung für die Wirtschaft bzw. für Banken?

Rothensteiner: Österreich hat insgesamt das Glück, eine so gute Bonität zu haben, dass die Regierung auf dem internationalen Kapitalmarkt langfristig Geld bekommt, und das zinslos. Damit haben wir zwar wieder eine höhere Staatsverschuldung, aber die Zinsen dafür sind minimal. Und daher kann man auch die Unterstützungsleistungen, Steuerausfälle und Stundungen von diversen Zahlungen, wie das derzeit in vielen Bereichen der Fall ist, verkraften. Draufzahlen tut die Kunst, vor allem die selbstständigen, freien Künstler, denen man auch nicht den Umsatz vom Vorjahr ersetzen kann. Und besonders schwierig wird es auch für die Hotellerie inklusive alle Zulieferer, vor allem jetzt durch den erneuten Lockdown. Zwar erwartet etwa die Industriellenvereinigung für 2021 den größten Aufschwung der letzten 40 Jahre mit fast zweistelligen Zuwachsraten. Doch selbst wenn das so kommen wird -und eine gewisse Zuversicht ist da -, manche Betriebe werden es dennoch nicht überleben. Man muss aber fairerweise sagen, dass es einige wohl auch ohne Corona nicht überlebt hätten.

Banken und Lagerhäuser sind wesentliche Stabilitätsfaktoren in der Pandemie und zählen zur kritischen Infrastruktur. Wie hat Raiffeisen die Corona-Krise bisher gemeistert?

Rothensteiner: Auf den ersten Blick würde ich sagen: unaufgeregt und im besten Sinn des Wortes unauffällig. Wobei sich schon sehr deutlich gezeigt hat: Wir sind ein Fixpunkt in Österreich und allen seinen Regionen: Raiffeisen. Meine Bank. bzw. Unser Lagerhaus. Die Kraft am Land. - das sind nicht nur schnell dahergesagte Sprüche aus der Werbung. Unsere Banken und Lagerhäuser -und dazu nenne ich ausdrücklich noch unsere lebensmittelverarbeitenden Betriebe - waren und sind immer da für ihre Kunden und Mitglieder, mit und ohne Pandemie, mit und ohne Lockdown. Das mag in Normalzeiten selbstverständlich erscheinen. Aber ich bin sicher: In Wochen wie diesen haben viele Kunden aufs Neue bemerkt, was es wert ist, meine Bank oder unser Lagerhaus zu haben, wie wertvoll diese Selbstverständlichkeiten sind.

Rothensteiner

Insgesamt sind Sie also mit der aktuellen -auf Neudeutsch würde man sagen -Performance des Raiffeisen-Sektors zufrieden?

Rothensteiner: Ja -ich denke, wir haben das bisher wirklich gut gemacht. Und gerade unsere Raiffeisenbanken spielen auch bei der Bewältigung der ökonomischen Folgen der Pandemie eine entscheidende Rolle. Als jeweils sehr mit ihrer Region verbundene Institute haben sie größtes Interesse daran, ihren Kunden auch in schwierigen Zeiten das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Nach meinem Dafürhalten hat sich Raiffeisen im Vergleich immer am längsten bemüht, Betriebe, die damit verbundenen Arbeitsplätze und so weiter durchzutragen. Da haben große internationale Banken schon lange den Hahn zugedreht. Gerade in Zeiten wie jetzt zeigt sich also mehr denn je, welchen Zugang man zum Bankgeschäft hat: Ist es bloß Beruf, oder meine Berufung? Vor dem entsprechenden Engagement unserer Kolleginnen und Kollegen, die alles tun, um ihre Kunden gerade jetzt bestmöglich zu unterstützen, ziehe ich daher den Hut. Und auch, was eine weitere bedeutende Frage betrifft, gehe ich zuversichtlich ins neue Jahr: Stichwort Digitalisierung. Die spielt natürlich auch bei uns eine immer bedeutendere Rolle, daher bin ich froh, dass unser Online-Banking ELBA mittlerweile wirklich gut funktioniert. Wo uns der Mitbewerb inszwischen gehörig etwas vorlegt, ist das Thema Marketing. Vielleicht schaffen wir auch hier neue Akzente.

Glauben Sie, dass wir nach der Krise unser Leben, unser Wirtschaftssystem und unseren Umgang miteinander nachhaltig verändern werden oder bleibt alles beim Alten?

Rothensteiner: Ganz zu unseren alten Mustern werden wir wohl nicht zurückkehren. So wird uns etwa ein Teil der Bildschirmkommunikation bleiben, denn viele haben gesehen, was hier überhaupt möglich ist. Für eine Stunde Besprechung in der Europäischen Zentralbank eigens nach Frankfurt zu fliegen, wird man sich in Zukunft sicherlich überlegen, vor allem, wenn es um Verhandlungen ohne weitgehende Entscheidungen geht. Also keine unnötigen Tagesreisen mehr. Was auch noch für eine gewisse Zeit wegfallen wird, ist der Händedruck. Für mich ist das schon ein Thema, denn wenn -und wie -mir jemand die Hand gibt, weiß ich noch besser, wie mein Gegenüber eingestellt ist. Aber es wird wohl noch länger dauern, bis diese in unserem Kulturkreis so wichtige zwischenmenschliche Geste wieder kommt.

Auch Homeoffice wird teilweise bleiben, wenngleich man es damit zumindest meiner Meinung nach nicht übertreiben sollte. Was dann aber jedenfalls dazu führen wird, dass man einige Büros nicht mehr braucht und so weiter. Es wird also jedenfalls in vielen Bereichen des Lebens Änderungen geben. Aber eines hat sich angesichts der Pandemie ebenfalls sehr deutlich gezeigt, nämlich dass nur online auch nicht funktioniert. Es braucht zudem Stabilitätsanker vor Ort. Und ich habe es ja eingangs schon angedeutet: Wir haben die Krise bisher nur deshalb so gut überstanden, weil sich unter anderem unsere 1.400 Raiffeisen-Genossenschaften und ihre Betriebe überall in Österreich als solche Stabilitätsanker erwiesen haben - zusätzlich zu Internet-Banking und Online-Handel. Denn gerade in Ausnahmesituationen will ich mich auch persönlich an jemanden wenden können, den ich kenne und der im Idealfall auch noch mich kennt. Und genau das ist -unabhängig von allen sonstigen strategischen Überlegungen -auch in Zukunft unsere große Stärke: Raiffeisenbanken und Lagerhäuser und die vielen weiteren Genossenschaften: wir sind solche Stabilitätsanker in den Regionen. Wir sind -und bleiben -ein Fixpunkt im Land.

Könnten Genossenschaften im aktuellen Umfeld sogar einen Aufschwung erfahren?

Rothensteiner: Davon bin ich überzeugt. Und dieser Aufschwung ist auch schon da. Denn die Idee der Genossenschaft -Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele. -, diese Idee ist gerade jetzt bestechend: Wenn Menschen in ihrer Region merken, wir müssen wieder mehr zusammenrücken. Wenn sie gemeinsam etwas bewegen wollen, gemeinsam mehr tun möchten als bisher üblich, dann bietet sich die Genossenschaft als Organisations-und Rechtsform ja geradezu an. Wir sehen hier derzeit vielfältiges Potenzial. Speziell im Zukunftsthema erneuerbare Energie - aber auch in den Bereichen Nahversorgung, Kooperation Soloselbständiger oder Stärkung des ländlichen Raums. Nur leider wissen nach wie vor viel zu wenige Menschen etwas über Genossenschaften und darüber, wie modern diese Idee gemeinsamen Wirtschaftens eigentlich ist.

So gesehen kein Zufall, dass das neue Leitbild des ÖRV unter dem Motto steht: "Einer großen Idee und seinen Mitgliedern verpflichtet"?

Rothensteiner: Der Österreichische Raiffeisenverband ist weder nur Bank noch Lagerhaus, wir stehen für Raiffeisen in seiner gesamten Breite und Vielfalt. Daher haben wir gerade im ÖRV die Aufgabe, das Thema Genossenschaft und die Grundidee dahinter hochzuhalten, die da lautet: Es braucht mehr Miteinander, damit letztendlich alle Menschen besser leben können. Viele in unserer Organisation merken langsam, wie wichtig dieses Thema ist bzw. wieder wird. Wie sehr es auch unser Alleinstellungsmerkmal ist. Und wir im ÖRV müssen dafür der stetige Genossenschafts-Impulsgeber und -Kommunikator sein. Wenn uns das gelingt, haben wir viel geschafft. Eine wichtige Aufgabe kommt dabei auch der Raiffeisenzeitung zu. Daher unser Neujahrsvorsatz für 2021, dass ab ca. Mitte des Jahres wirklich jeder Mitarbeiter und jeder Funktionär die Zeitung bekommt. Das ist lange überfällig, dafür laufen aktuell die Vorbereitungen und das bringt uns in der Kommunikation der Raiffeisen-Idee einen großen Schritt weiter.

 

Quelle: Raiffeisenzeitung